"Unterlassene Hilfeleistung" - Anmutungen und Zumutungen
Allem Reden über Kunst haftet ein
Manko an.
Der Redner wird in ein Dilemma
gestürzt, im günstigen Fall von seinen Freunden, den Künstlern, im
ungünstigen von der Lust an der Selbstdarstellung oder den Notwendigkeiten
des Marktes, sei es der Kritik, sei es der Kunst. In meinem, günstigen
Fall, stürze ich mich, mehr oder weniger wohlgemut, gern, meinen Freunden
zuliebe, mehr aber noch meiner Liebe zu deren Kunst halber, in dieses
Dilemma, das in seiner einfachsten Form heißt: "Je mehr Gerede, desto
weniger Kunst." Eine Zumutung ist daher meine Rede und Zumutungen will ich
auch tatsächlich an Sie herantragen - Zumutungen im besten Sinn des Wortes
stellen vielleicht die Werke dar.
Setze ich sie der Zumutung: 'Rede
über Kunst' aus, so will ich dennoch versuchen, in meiner Rede der
Zumutung
Kunst Platz zu schaffen, nicht im Versuch einer ultimaten
Deutung und Vorgabe für Sie, sondern als Beispiel dafür, wie diese Kunst
für mich Bedeutung gewinnt und welche. Ich selbst stehe also ein für diese
Kunst in meiner ganz persönlichen Eigentümlichkeit. Am Schluß steht denn
auch nur eins nicht in Frage, bei dieser Auslegung einer Kunst, die Fragen
stellt, die Fragen erzwingt, die sich selbst und uns in Frage stellt.
Nicht in Frage steht, daß diese Kunst die Möglichkeit eröffnet, einen
offenen Blick für Bedeutung, für Welt, für uns selbst zu gewinnen. Die
Möglichkeit steht deshalb nicht
in Frage, weil diese Kunst für mich das leistet.
Immanuel Kant kennzeichnet das
Sprechen über Kunst als ein subjektives Urteil mit der Anmutung auf
Allgemeingültigkeit. So spreche ich denn von
meiner Erfahrung mit der
verstörenden und faszinierenden, der verletzenden und befreienden Kunst
von Neumann - Peretti und verbinde doch damit einen
theoretischen Gehalt, mute Ihnen
an, jenseits aller objektivierenden Festschreibungen dem Gehalt der Werke
sich zu öffnen.
Lassen Sie sich ein auf
inhaltliche Irritationen, auf zugrundeliegende traumatische Erfahrungen,
auf ungewohnte - ich sage bewußt nicht Ästhetisierungen, sondern Versinnlichungen. Wenn Sie dies tun,
wenn Sie verletzbar werden, sich sensibilisieren lassen für die
Verletzbarkeit des Menschen in den figürlichen Arbeiten von Sibylle
Peretti, empfindsam für den Sog der Farben in den
Klage- und Zornbildern Werner
Neumanns, aufmerksam auf das Zusammenspiel der Symbolzeichen von Tod und
Geschlecht, dann machen Sie die Erfahrung, die Menschen immer mit Kunst
gemacht haben, die Erfahrung, daß eine verletzliche, verletzte Wahrheit
zum Ausdruck gelangt, eine seltsame Wahrheit, eine Wahrheit des
Materials, der Sinne und vor allem der Menschen, die diese Kunst schaffen,
eine Wahrheit, die selbst da noch
wahr spricht, wo die unmittelbare These, die sie bekundet, falsch sein
mag.
Sollte ich die Perspektive, die
sich für mich aus der Mischung von
Vorgabe durch die Objekte der Ausstellung und idiosynkratischer
Vorliebe, also meiner eigentümlichen, persönlichen Begegnung mit dem
Werk von Peretti - Neumann, ergibt, sollte ich diese subjektiv-objektive
Perspektive doch allgemein
kennzeichnen, dann würde ich - mag sein zu Ihrer Verwunderung, mehr noch
sicher zur Verwunderung meines Freundes, des Künstlers Werner Neumann -
diese Perspektive eine christliche
nennen.
Ich brauche dafür keinen
Aufhänger, das ist mit Händen zu greifen, das sticht in die Augen, wer
Ohren hat zu hören, der kann es sogar hören und man muß schon alle seine
Sinne verschließen, um das nicht unterschwellig zu spüren. Zu Christen
würde ich sagen, Du kannst Dich dieser christlichen Botschaft nur
entziehen, indem Du Dein Herz verschließt, wenn Du - fälschlich -
vermeinst, den eigenen christlichen Anspruch ableisten zu können durch
Kirchgang und einer Mark für den Klingelbeutel.
Falls Sie doch einen Aufhänger
bevorzugen, anempfehle ich Ihnen das große, den geistigen Ort dieser
Ausstellung unmittelbar thematisierende Bild: "Du sollst nicht töten". Sie
werden sich erinnern, es ist dies das 5. der Zehn Gebote, auf die sich die
Christen als Dekalog in besonderem Maße berufen.
Wenn Werner Neumann sich auf
dieses Gebot beruft und stützt, dann liegt in dieser Berufung bereits die
wütende, leidende, anklagende Frage: Und was macht ihr Berufenen der
Kirche, die ihr euch selbst,
selbstherrlich und
selbstgewiß als berufen versteht, was macht ihr Berufenen aus dem
Gebot?
Die christliche Perspektive
Werner Neumanns ist sicher keine, die zu den weißgelben Kirchenfahnen
ruft, eher ruft sie zur Desertion einer Institution, die Seele und Gebote
selbst desertiert, im Wortsinn von deserere, Seele und Welt wüst und leer
werden läßt, trotz allem und in allem Gepränge.
Wir wollen und können
dahingestellt sein lassen, ob jede Anklage, jeder wütende Schrei, der
seinen dramatischen Ausdruck in aggressiv-denunziatorischen Symbolen wie
Hakenkreuz und Mitra sucht, seine Rechfertigung in einer diskursiven,
reflektierten These finden könnte. Seine Rechtfertigung als energisches
Wachrütteln, als Aufrütteln aus dem Einlullen billiger Sprüche hat er
allemal. Seine Wahrheit im vorhin benannten Sinn ebenso.
Damit wir uns nicht falsch
verstehen. Ich bin weit davon entfernt, Quasientschuldigungen zu
formulieren. Die Notwendigkeit
der Unausgewogenheit versuche ich Ihnen zu vermitteln.
Der erstickte Schrei von Opfern
artikuliert sich in diesen Bildern - nehmen Sie beispielsweise jenes Bild
eines Bootes auf einem toten Meer von Blut. Der erstickte Schrei von
Opfern, denen die Hilfe nicht geleistet wird, die eigentlich uns selbst
erst zur Menschlichkeit bringt, prägt den Gestus auch der übrigen Bilder.
Deshalb ersteht in den Bildern eine Welt der Toten und des Todes als
Menetekel, als Menetekel, falls wir nicht zu jener Hilfe finden, die
letztlich Selbstrettung bedeutet, die Rettung einer menschlichen Welt.
Ein Wort nur zum ästhetischen
Phänomen: Achten Sie auf die rote Farbe, - vielleicht erleben Sie eine
ähnliche Verwunderung wie ich. In der Erinnerung an die Bilder war ich
nämlich zunächst nahe daran in der Beschreibung fehlzugreifen und von
einem "Schrei in der Farbe Rot", durchaus mit dem gesuchten Anklang von
`schreiender Farbe` zu sprechen, bis mir bewußt wurde, daß ein Verstummen
zum Ausdruck gelangt, daß - was ich natürlich immer schon sah - die rote
Farbe ins Schwarz verrinnt, wie geronnenes Blut. Die Farben in den Bildern
von W.N. gewinnen einen Eigen- und Ausdruckswert, eine Richtigkeit, wie
sie von vielen allzu häufig nur postuliert wird, aber nicht auf die
Leinwand gebracht. Hier erhält Farbe einen Wert wie ihn die besten
expressionistischen Gedichte als Wortausdruckswert erreichen.
Vertrauen Sie ihren Sinnen,
wollte ich mit dieser Anmerkung zu ästhetischer Erfahrung sagen, vertrauen
Sie den Sinnen mehr als den aufgewühlten Gedanken. ....
Denn keineswegs ist dies
Agitationskunst - das Anliegen wird in extremer Steigerung der
Besondertheit ins Allgemeine gehoben. Werner Neumann berührt in seinen
Klage- und Zornbildern den Menschen, berührt, was uns alle angeht.
Benennt und bezeichnet "Du sollst
nicht töten" gleichsam programmatisch den geistigen Ort der Ausstellung,
so gipfelt die Ausstellung sowohl der Gewichtigkeit wie der
künstlerischen Inszenierung nach in der bereits in Krakau und Köln
gezeigten, hier neu eingerichteten, beeindruckenden, großen Installation:
`Unterlassene Hilfeleistung`, die der Ausstellung den Namen vorgibt.
Dieser Gemeinschaftsarbeit
gelingt das seltene Kunststück, das Ergänzungsverhältnis der beiden
Künstler tatsächlich fruchtbar zu machen in einer Vereinigung von
Engagement und Distanz, von unmittelbarster Sinnlichkeit und reflektiertem
Konzept und, wollte ich hoch greifen, so würde ich sagen von Immanenz und
Transzendenz, Diesseits und Jenseits. Ich glaube nicht, daß es besonders
fruchtbar wäre, die einzelnen Momente dieser Ganzheit nun wieder je
einer Person zuzuordnen und vielleicht gar am Schluß die
Gegenüberstellung mit männlich-weiblich zu krönen. Das schiene mir in der
Tat falsch.
Doch zum Ergänzungsverhältnis der
beiden Künstler in der konkreten Ausstellungssituation, die ja diese
Gemeinsamkeit der Haupt-Installation in Abschwächung nochmals spiegelt,
möchte ich doch ein Wort sagen.
Die Grundbefindlichkeit des
Menschen in der individuellen Konkretheit archaischer Ängste und in der
unmittelbaren, brutalen Faktizität, wie Sibylle Peretti sie thematisiert,
wird von Werner Neumann aufgegriffen und im konkreten gesellschaftlichen
Raum verortet. Der von Sibylle mit unerhörter Sensibilität wahrgenommene,
für gewöhnlich ausgeblendete Raum
der negativen Seiten, der Raum der schlichten Realität von Schmutz,
Deformation, Qual und Ausgesetztheit des Lebens und im Leben wird so
konkret befragt nach der Differenz zwischen solcher menschlicher
Grundbefindlichkeit und menschlich verschuldeter Mehrung des Leids. Der
Schrecken und das Schreckliche des Todes und des Verfalls, die
Unvermeidbarkeit des Leids vielleicht aber auch der Horizont von Erlösung
sind Anthropina, unausweichlich mit dem Menschlichen verbundene
Wesenszüge, und doch rechtfertigt dies nicht im Geringsten das von
Menschen und Institutionen über andere Menschen gebrachte Leid.
Die Dimension der sozialen und
politischen Betroffenheit als Agitation gegen Unmenschlichkeit der
Institutionen, die Sibylle im Ausloten von wesenhafter Ausgesetztheit des
Menschen auf der elementarsten Ebene eher ausblendet, kommt so in anderer
Form wieder herein, wird gewonnen, neu akzentuiert und topikalisiert durch
W. Neumann. Meinem Gefühl nach wird andererseits Werner Neumann durch
Sibylle Peretti vom Blick auf sozialpolitische Gegebenheiten und
bedenkliche Auswüchse und Deformationen sozialer und politischer
Institutionen etwas abgelenkt und hingelenkt
zu existentiellen Grundmomenten in deren tiefer Allgemeingültigkeit.
Sibylle Peretti wurde kürzlich in
einer amerikanischen Zeitschrift mit Leon Golub, einem der bekanntesten
amerikanischen, sozialkritischen Maler verglichen. Dieser Vergleich hat
in erstaunlicher Weise Recht, obwohl er meinem Gefühl nach in geradezu
verblüffender Weise danebengreift. In der Problematik und Konkretisierung
gesellschaftlicher Kritik entspricht Leon Golub in vielem eher Werner
Neumann, allerdings ohne dessen, vielleicht auf die befruchtende
Zusammenarbeit mit Sibylle Peretti zurückzuführende Tiefendimension. Der
Vergleich hat deshalb in erstaunlicher Weise Recht, weil er am ehesten auf
den Kontext einer Ausstellung wie dieser passen würde, wobei ich durchaus
meine, daß, so ehrenvoll der Vergleich mit Golub sein mag, eher Golubs
Werke eine Aufwertung erfahren.
Wollte ich für Sie den
Assoziationsraum für Perettis Glas-
und Bildwelten umreißen, ich würde an Becketts Endzeitgestalten in
Endspiel erinnern an die Dunkelräume der Seele in einer kafkaesken
klaustrophoben Welt, oder an die verzerrten Chiffren leidender Menschheit in Bacons Tafelbildern.
Immer findet sich das Aufrütteln
aus dem Einlullen als der gemeinsame Nenner, es benennt auch die
Gemeinsamkeit der beiden hier in Rede stehenden Künstler und beläßt ihnen
doch die je ganz andere, wahrlich eigene Weise.
Sibylle Perettis nackte Chiffren
leidender Menschheit, die gekrümmten, skelettierten, durchbohrten und
verbrannten Leiber finden ihre Apotheose in der großen Figur der
Installation in foetaler, letaler Haltung,
Geburt und Tod verbindend.
Aber ich will nicht die große
Figur auslegen, als letzten Hinweis will ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine
Arbeit lenken, die mich so fasziniert, daß ich fast davor zurückschrecke,
sie zu besprechen, da man ihr unbedingt die Widersprüchlichkeit erhalten
muß.
In der
Glasinstallation `Haltungen` kreuzt sich das apotropäische, das
abwehrende Moment, das im Darstellen des Ungeheuren ebendies Ungeheure zu
bannen sucht, mit dem erschreckenden Faszinosum des gebannten Blicks auf
die Wahrheit einer in die Knie gezwungenen, gefesselten, in Reih und
Glied ausgerichteten Herde Mensch.
Dieses Meisterwerk, das einen
Assoziationsraum öffnet von Stall und Viehhaltung, bis zu Gebet und
Opfer, bringt in unerklärlicher Weise dennoch zugleich eine Dimension von
Erlösung ins Spiel.
Die Glasfigur mit der die Reihe,
wenn wir in abendländischer Schriftfolge ordnen, beginnt, stellt
eigentlich den Letztzustand dar. Die Drähte, die nach außen gehen, die die
gebeugten Leiber verdrahten, fesseln und dirigieren zugleich, sie fehlen
bei der ersten Figur, die eigentlich die letzte ist, ebenso wie das Glas
im Rücken fehlt, der hier, aufgebrochen, sich als gläserne Wunde
darbietet.
Den Werkstoff Glas führt Sibylle
Peretti seit geraumer Zeit in für mich, aber auch für zahlreiche
Fachleute, erstaunliche Ausdrucksdimensionen. Darauf einzugehen ist hier
nicht der Ort.
Achten Sie einfach genau wie bei
dem Zusammenspiel der Farben und Symbole in den Bildern von Werner Neumann
auf die Wertigkeit der Materialien, die Fügung von rostigem Draht und
Kohle mit lichter Sichtigkeit von Glas, von Schmelze mit hartem Bruch,
achten Sie auf den gebrannten Ton und seine Konnotationen von verbrannter
Erde und verbrannter Haut und - schmerzhaft und verwunderlich für mich -
auch von glasierten Früchten.
Die Brüchigkeit und Gefährdetheit
des Menschen bewußt machen - das Stören der Ordnungen und das Brechen von
Hierarchien denkbar machen - den Sturz von Befestigungen der Herrschaft
im Außen und von Verfestigungen der Seele im Innern erfahrbar machen,
heißt: Unterlassene Hilfeleistung
einfordern - in dieser Forderung wird
Erste Hilfe geleistet
durch die Ausstellung mit dem in dieser Hinsicht paradoxalen Titel:
Unterlassene Hilfeleistung.
Keineswegs möchte ich sagen:
geben Sie der Kunst eine Chance oder gar: geben sie den Künstlern eine
Chance. Ergreifen Sie vielmehr die Chance eine Erfahrung zu machen: Geben
sie sich die Chance, Bedeutung nicht zu entnehmen als Vorfindbares,
sondern Bedeutung zu gewinnen, für sich -
Sie für sich selbst. Die
Bedeutung in der Welt gewinnen die Kunstwerke dann, das ist jenes die
Kunsttheoretiker seit Platon verwirrende Wunder der Kunst, die Bedeutung
in der Welt gewinnen die Kunstwerke dann scheinbar von selbst.
Wie Sie, weiß auch ich nicht
genau, was Ihnen und mir bevorsteht in der Performance von Tom Toys. In
den verschlungenen, verwirrenden, übersprudelnden Wortkaskaden, die er
mir als eine Art verbindlich - unverbindlicher Information zur Verfügung
gestellt hat, blitzt in einem Moment im Paradox Sinn auf, der im nächsten
in nochmals übersteigerter Metaparadoxie aufgehoben wird. Doch eines
glaube ich sagen zu können: Wer die fiebrigen Unruhelinien
seismographischer Erschütterung und Betroffenheit nicht durchspürt in den
benutzten Versatzstücken von Sprache, die in einer Art Vernutzungsorgie -
so mein Eindruck - zu einem neuen Klang geführt werden soll, wer gar nur
Clownerie zu entdecken vermeint, der verfehlt eine wesentliche Dimension,
dem entgeht die Transformation in der Performation, auf die ich mit Ihnen
gespannt bin.
Kontrollierter Absturz - d.h.
zwischen Chaos und Ordnung ein gefährdeter Platz, ein gefährdeter Platz
des Zwischen für den Menschen.
POST FESTUM 24.5.92 Als ich in meiner Rede zur Ausstellungseröffnung auf Tom de Toys zu sprechen kam, sagte ich wenig mehr als: "Ich weiß nicht". Das war wahr gesprochen und tatsächlich weiß ich auch jetzt nicht, ob ihm je zuvor eine Performance gelang, weiß auch jetzt nicht, ob ihm je eine weitere gelingen wird. Sicher weiß ich: diese Performance im Kunstraum Eisenstein ist gelungen, merkbar gelungen. Mit Performances habe ich oft Schwierigkeiten, vielleicht, dass ich nicht sensibel genug bin, vielleicht, dass ich überempfindlich bin. Mal sind sie mir zu prätentiös, mal zu wenig bedeutungsschwanger. Und dann leide ich an mir und der Performance zugleich, bin mal höflich, mal verärgert, empfinde mich gleichzeitig als hochtrabend und ignorant und doch auch wieder als nicht ernstgenommen und wirklich besser wissend. In diese unerquickliche Situation brachte mich auch sofort Tom de Toys mit dem ersten Ruf. Als sich dann meine peinliche Beklemmung im Verlauf immer mehr verflüchtigte, wurde mir auch bewusst, wie wenig Chancen ich eigentlich einer Geschichte gab, wenn ich schon beim ersten Ruf Prätentiosität zu spüren vermeine. So bin ich dem geschickten Künstler nicht zuletzt dafür dankbar, dass er mich von der Fixierung eines generalisierten Vorurteils ein wenig freistellte, mir den Freiraum öffnete für ein einfaches Genießen einer Performance. Tom de Toys' Schrei von und nach der Brücke, der Schrei von der Brücke aus nach Überbrückung zu weiß Gott welchen Ufern, hat keinen eindeutigen Gehalt, er gewinnt im Verlauf eine vielschichtige Sinndimension im Zwischen von Kunst und Leben, von Zeichen und Gegenstand, von Sein und Schein. Blutig, durch rotgetränkte Verbände gefesselt, stellt er ein Opfer dar, so einsichtig, dass hilfreiche Passanten die Polizei rufen, nicht um ungehöriger Kunst zu wehren, sondern um außerhalb des Kunstraums Hilfe zu leisten. Scheint doch der Unglückliche AUF die Brücke gelangen zu wollen, um zum realen – für die Zuschauer zum imaginierten – Ufer zu gelangen. Doch der gefesselte Prometheus, der mit einem gigantischen Knochen den Stein in dumpfen Schlägen, deren Hall das Brückengewölbe zu der Gemeinde weiterträgt, zu erweichen sucht, rutscht ab bis zum Ufer des Bachs, ein tödlich verletzter Adonis. Eine kunstverständige Dame fühlte sich an Adonis erinnert, und dieses Bild trifft sicher assoziativ am ehesten zu, in der Schönheit und Feier des Leibes und des Lebens, wie in der Verwundung, an welcher der klassische Adonis stirbt. Dem sterbenden Adonis gleicht Tom de Toys dort am Ufer, mehr Wunde denn schöner Leib. Doch wir erfahren die Umkehrung der Geschichte. Denn am Ufer richtet sich der menschgewordene Torso aus Sibylle Perettis Universum der Schmerz- und Leidensfiguren, der todwunde Adonis auf, streift die Fesselungen ab, steigt – nun schon näher am lebenden Adonis – ins Wasser zwischen Verkündigung Johannes und Bespiegelung des Narziss schwankend und begrünt die Steine wie Dionysos, wie Dionysos aus blutigem Opfer –in diesem Falle Rinderherz – Leben schaffend. Nun ich will mich nicht über alle Grenzen forttragen lassen, recte also: Leben schaffen symbolisierend, lebend und schaffend. Die grüne Farbe, die er auf sein Herz – mittels Rinderherz? – im Rhythmus des Herzschlags aufbringt, gewinnt Leben, atmet durch den Körper. Oder bringen die Schläge an die Brust erst sein Herz in den richtigen Rhythmus? In gewisser Weise belebt er in diesem Gestus erfolgreich den Stein, in der symbolischen Handlung und indem er mit symbolischen Zeichen des Lebens den Stein bemalt. Bei soviel leicht exerzierter Bedeutungsschwere wird dann auch ein Gag wieder leicht möglich ohne – weder Zuschauer noch Bedeutung – zu erschlagen. Der verwunderte Ruf: "Wo sind die Fische?" – ist sicher ein Gag, ein freier Scherz in einem freien Spiel. Doch er ist auch eine Frage, zwischen Mensch und Natur, die sich uns im postindustriellen Zeitalter bei zahlreichen Gewässern, gebe Gott nicht in Bayerisch Eisenstein, bedeutungsschwer aufdrängt. Die Grenze zwischen bloßem Gag und vertrackter Bedeutung verwischt. Die Grenze zwischen Kunst und Leben, zwischen Diesseits und Jenseits überbrücken wollen, die unsichtbare Grenze zwischen Leib und Leiblichkeit und ZEICHEN für Leib und Leiblichkeit ausloten, das schien mir der Dreh- und Angelpunkt der Performance. Schmerz und Lust, Blut und Farbe, Spiel und Ernst, reiner Gag und Anflug von Bedeutung stehen in wechselseitiger Verweisungsrelation. Die flockige Schlussreplik, die alle Bedeutungsschwere und Symbolbeladenheit in heiteres Nichts auflöste: "Es gibt keine Brücke", brachte für mich das Ganze auf den richtigen Nenner. Nicht weil sie bekundet: es ist alles nichts, sondern weil sie die Grenze selbst in den Raum des Lebens, in den Raum des Seins legt. Wir bewegen uns immer schon im Sprachspiel, wir stehen immer schon im Leben, wir sind immer schon in der Geschichte -, woraus folgt, suche nicht nach der Brücke zur Bedeutung, schaue nicht aufs Jenseits, dann findest Du im Leben die Kunst, in der Beliebigkeit die Bedeutung, im Diesseits das Jenseitige. Sicher spielte alles mit in dieser Performance, das Wasser des Bachs, der wunderbare Weg den Bach entlang, der ja auch ohne Performance ereignishaft ist, die Sonne und auch – etwelche wirklich Interessierte, Offene für die Bilder zwischen Körper und Zeichen, Natur und Kunst, Symbol und Leben. Ja, sogar die Polizei. Die Polizisten, bodenständig bayerisch zu Hilfe geeilt und kunstverständig genug, die unsichtbare Grenze Kunst zu erkennen und zu respektieren, sahen ihr Metier nicht berührt, und ließen dem Spektakel seinen Lauf. Ich weiß nicht, ob Tom de Toys eine weitere Performance so glücken kann, sicher kann er größeren Erfolg erzielen. Gerade dann aber mag es vielleicht gut tun zu wissen, einmal gelang der Drahtseilakt tatsächlich, einmal der Tanz auf der wirklich-unwirklichen Grenze zwischen Leben und Kunst. Und so bedauerlich es ist, dass keine angemessene Dokumentation von dieser Performance existiert, vielleicht ist die angemessenste Weise der Bewahrung gerade dieses Loslassen vom Haben in der Konservierung, das Freigeben in das, was es gewesen ist, ein geglückter Moment. ("POST FESTUM" von Josef Rauscher erschien erstmals 1993 in der Kölner G&GN-Publikation von Tom Toys: "Geheimes Wartungsbuch Ohne Ende. Für Eine Welt Ohne Größenwahn")
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