Georg Simmels ‚Tragödie der Kultur’ als eine spezifische Akzentuierung des Dilemmas sprachlicher und ethischer Bedeutung

Motto: „Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste“ Hölderlin „Socrates und Alcibiades“

 

Vorweg: Stadtkultur - eine Infragestellung Simmels

Meine Ausführungen zu Georg Simmel zielen nicht so sehr darauf ab, einen programmatischen Grundtext der Kulturphilosophie[1] in Erinnerung zu rufen oder zu halten. Zunächst möchte ich jenes Gefühl, daß das Leben, vor allem unser seelisches Leben, von den petrifizierten Artefakten der Kultur, den Manifestationen des Kulturbetriebs und den exponentiell anwachsenden Objektivationen des Geistes, erstickt zu werden droht, als eine Befindlichkeit unserer Zeit verständlich werden lassen, um es letztlich als theoretische Grundlegung in Frage zu stellen. Spreche ich so dem melancholischen Befund des Lebensphilosophen Simmel durchaus eine Plausibilität zu, so möchte ich dennoch den Akzent auf die Zurückweisung der theoretischen Annahmen legen. An der Sprache als Kulturleistung ist zu sehen, daß wir diese Simmelsche Erfahrung mit der Kultur nur dann machen, wenn wir das falsche Sprachspiel spielen, die falsche Lebensform wählen.

Der konkrete Ort, von dem aus ich spreche, der Ort, an dem wir uns zu der Auseinandersetzung über die Themen Lebenswelt und Lebensphilosophie, zusammengefunden haben, Dubrovnik, scheint mir geradezu ein Bild für die Infragestellung der Simmelschen Annahmen zu sein. Zunächst könnte man die Stadt, von der Levinas treffend gesagt hat, sie sei gebaut wie ein Haus, allein vom Stadtbild als eine Illustration von Simmels Thesen ansehen. Denn wir kennen durchaus die Gefahren, die Städten von solcher Geschichtsmächtigkeit, von solchem Grad an kultureller Sättigung drohen. Die Festungsmauern ein sklerotisches Gerüst, die Kirchen, Paläste und Forts von Betrachtern gesuchtes Bestätigungsbild eines in der Vergangenheit liegenden, gelebten Lebens. Doch, machen wir nicht in Dubrovnik täglich die Erfahrung, daß und wie die Stadt lebt? Lehrt uns nicht die jüngste Vergangenheit, daß die Vorvergangenheit als Kraftquelle dem Leben zugutekommen kann, daß die Mauern, selbst als militärtechnisch obsolet gewordener Schutz, zeichenhaft noch immer ihre Kraft dem Leben in bedrängter Zeit zu leihen vermochten? Durchpulst nicht Leben diese Stadt, dessen Pulsschlag wir aufnehmen. Ist nicht in gewisser Weise unsere Veranstaltung selbst ein Zeichen für das Vermögen der Verlebendigung durch die Kultur? Dubrovnik mag in seiner steinernen Schönheit qua Bild zur Illustration Simmelschen Kulturverdachts einer Petrifizierung taugen, als Ereignis stellt die schöne Lebendigkeit Dubrovniks Simmel in Frage. Weil die Kultur gesteigert herausfordert, blüht das Leben[2]. Von dieser Würdigung des genius loci in seiner kristallisierten Schönheit und lebendig-dynamischen Kraft gehe ich über zu einer kurzen Kennzeichnung des Begriffs 'Leben', jenes Lebens, das Simmel durch die Kultur tragisch bedroht sieht.

I Vom Wort ‚Leben’ in 'Lebensphilosophie' - 'Lebenswelt' und 'Lebensform'

In der Situierung und Vorbesprechung dieser Tagung im Spannungsfeld der Terme ‚Lebensphilosophie’, und ‚Lebenswelt’ haben wir den Begriff ‚Leben’ in unterschiedlichen Facetten ins Spiel gebracht, bzw. phänomenologisch im Spiel gehalten. ‚Lebensphilosophie’, ein Begriff, der seinerseits changiert zwischen thematischer Epochenbezeichnung, methodologischer Disziplinauszeichnung und inhaltlicher Theoriekennzeichnung, setzt vornehmlich ‚konkretes Leben’ und abstrakten ‚Geist’, Intuition und Kalkül, Zeit und Raum, schöpferische Dynamik und mechanische Abfolge in Opposition zueinander und erklärt sich jeweils für das Leben gegen den Geist, für die Intuition gegen den Kalkül usw.. Der Focus der Aufmerksamkeit richtet sich auf das Individuum, die seelische Dimension und auf den konkreten Bios als Lebensvollzug.

Lebenswelt’ bringt konnotativ bei ähnlicher Ausrichtung auf Konkretion andere Grundaspekte zum Tragen. Die Gegenstellung von lebendigem Alltag und Praxis zu abstrakter Theorie und geschlossenem System umfaßt unter dem Signum 'Leben' das praktische Leben des Geistes und die soziale Dimension. Der Focus ist weniger auf das biologische, emotionale und seelische Gegengewicht zur Ratio, denn auf die Einbettung des individuellen Lebens in Umwelt und soziale Strukturen und zuletzt auf die reine Erfahrung gerichtet. Es ist diese 'vorgegebene Welt', wie Husserl einmal formuliert, als wirklich Erstes "die 'bloß subjektiv-relative' Anschauung des vorwissenschaftlichen Weltlebens"[3]. Ein wenig vorgreifend, merke ich im Zusammenhang dieser Verknüpfung von 'Leben' und 'Welt' zum umfassenden Fundierungsboden 'Lebenswelt' an, daß Georg Simmel seine lebensphilosophische Bedenklichkeit gegenüber der Kulturentwicklung zu tief fundiert und auf Gesetzmäßigkeiten der Lebenswelt abzielt, während er spezifische Lebensformen analysiert.

In diesem Zusammenhang möchte ich daher noch als weiteren Begriff, der die Zusammensetzung mit ‚Leben’ zum Programm macht, den Begriff der Lebensform erinnern. In der Kultur- und Sprachphilosophie der jüngeren Zeit wurde dieser bereits vor Simmel - und bei ihm - verwendete Begriff zu einer Art Schlüsselbegriff, der manchmal synonym zu Lebenswelt verwendet wird. Mit dem Begriff der ‚Lebensform’ wird seit Wittgenstein gerne die Vermittlung und Verschränkung der individuellen und sozialen Organisation des Lebens in einem umfassenden Sprachspiel charakterisiert, einem Sprachspiel, das jenseits und vor semantischen Festlegungen den Bedeutungsraum in einer sozialen Praxis fundiert. Diese gemeinsame Lebensform bestimmt den Bedingungsraum des dergestalt relativierten Welt- und Selbstverständnisses, eröffnet so aber zugleich den Raum für originäre Artikulation des individuellen Eigenen. Insofern die Lebenswelt eine Vielfalt von möglichen Lebensformen beinhaltet - man denke nur an die Biobauern und Börsenbroker in unserer technisierten Welt - und andererseits die Lebensform den Verwirklichungsraum für das Individuum bereitstellt, könnte man den Begriff der Lebensform in doppeltem Sinn kennzeichnen, a) als Vermittlung der umfassenderen Lebenswelt an Sprach- und Kulturgemeinschaften und b) als Gestaltungspotential des Individuums hinsichtlich sozialer Organisation[4]. Keineswegs nämlich ist kulturell jederzeit alles möglich, andererseits aber gilt, nichts ist prinzipiell unmöglich.

Wittgenstein bot eine der schönsten Kennzeichnungen dieses Form-Leben-Dilemmas als er sagte: „Wer eine bestimmte Tradition nicht hat und sie haben möchte, der ist wie ein unglücklich Verliebter“[5]. Wittgenstein spricht damit im Grunde von jenem „Objektivwerden des Subjekts und Subjektivwerden eines Objektiven“[6], das Simmel in dialektischer Gegenwendung als eigentliches Proprium der Kultur herausstreicht. 'Objektivwerden des Subjekts' bedeutet das Sich-Einfügen des Einzelnen in die festen Formen der tradierten Institutionen, und 'Subjektivwerden eines Objektiven' meint die Tatsache, daß die Strukturen der Tradition nur in dem und durch das jeweilige Subjekt leben. Georg Simmel hatte mit der Wechselverhältnis-Formel von 'Objektivwerden' und 'Subjektivwerden' versucht, das Spezifische des Kulturprozesses zu benennen, „in dem sich, über dessen einzelne Inhalte hinweg, seine metaphysische Form zeigt“ (Simmel Tragödie, 31). Damit bin ich vom Leben als Bestandteil von Wortfügungen mit widerständigen, objektivierenden Einschränkungen wie 'Philosophie', 'Form' und 'Welt' zur Simmelschen Tragödie des Lebens, die im Begriff der Kultur angezeigt sein soll, übergegangen.

II Darstellung des Simmel-Essays - Die Tragödie: Kristallisation.

Der Essay von Georg Simmel „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“ von 1911 kann in seiner Bedeutung für die Kulturphilosophie kaum überschätzt werden, und es gibt auch kaum eine Historie der Kulturphilosophie oder einen kulturphilosophischen Reader, der nicht auf diesen Schlüsseltext Bezug nimmt. Trotz seiner relativen Kürze kann ich ihn in diesem Zusammenhang nicht gänzlich darstellen, sondern muß mich - und will mich - auf einige Aspekte beschränken, die zunächst deutlich machen, inwiefern Motive der Lebensphilosophie bei diesem Blick auf die 'Tragödie der Kultur' eine entscheidende Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wieso Kulturentwicklung von Simmel notwendigerweise als tragischer Mechanismus gedacht werden muß, der im Erstellen von Objektivationen des Geistes dem Leben entgegenarbeitet, obwohl der Entwicklungsimpuls als Beförderung des individuellen seelischen Lebens und Höherentwicklung des Kollektivs verstanden werden sollte und von Simmel auch so gedacht wird.

Schon im Titel des Simmel-Essays klingt eine leichte Melancholie an, eine Melancholie, die nicht einfach von einem Kulturpessimismus[7] hinsichtlich einer faktischen Entwicklung, wie er für die Zeit nicht untypisch war und in den Folgejahren verstärkt wurde, bestimmt ist, sondern von dem Faktum geprägt wird, daß die Kultur als solche, also in jeder Entwicklungsmöglichkeit, eine zugleich notwendige und verunmöglichende Bedingung für Leben in seiner höchsten Steigerungsform ist. In ihrem geschichtlichen Verlauf scheint Kultur mit Notwendigkeit jene Gefährdung von Seele und Leben, die „in ihrem ersten Daseinsmomente“ (Simmel Tragödie: 57) schon virulent ist, zur tragischen Entfaltung zu bringen. Simmel zeichnet ein Bild, in dem die Kulturlawine unaufhaltsam das Leben unter Kulturwerten, die zu reinen Sachwerten mutieren, verschüttet. Ein wahrhaft düsteres Zukunftsbild mit einer Beschleunigung ins Verderben steht als Menetekel an der Wand, wenn auch immer noch, wie er meint, das große Unternehmen des Geistes, sich mithilfe von Objektivationen selbst einzuholen, in Einzelfällen gelingen mag. Theoretisch kann also durchaus das geleistet werden, was nach Simmel das eigentliche Programm des Geistes ausmacht, nämlich die subjektive Seele ihre höchste Möglichkeit realisieren zu lassen. Das geistige Abenteuer der seelischen Selbstverwirklichung liegt in der Rückkehr der Seele zu sich selbst über den Umweg - und das heißt durch das Medium - des objektivierten Geistes. Doch bei Simmel scheint die Möglichkeit solcher Entwicklung letztlich im Grunde nur mehr einem immer enger werdenden Kreis genienaher Rezipienten offen zu stehen.

Die Grundidee von Simmel ist schnell skizziert. Anthropologisch situiert er den Menschen als Wesen, das sich als Naturwesen gleichwohl doch der Natur als dem umfassenden, bedrohenden, nährenden, ermöglichenden und versagenden Objekt gegenüberstellt, "fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt“[8]. In einem solchen Prozeß zwischen dem Subjekt (Mensch) und dem Objekt (Natur) gründet nach Simmel der erste, fundamentale Dualismus. Die Subjekt-Objekt-Differenz wird in solcherart gelebter Erkenntnis der Natur konstituiert und als Dualismus von Menschsubjekt und Naturobjekt erfahren.

Dieser Dualismus findet nach Simmel innerhalb des Geistes seine zweite Instanz. Der Mensch begegnet nämlich nicht nur dem Objekt 'Natur' als mehr oder weniger prätentiöses Subjekt, er begegnet vor allem auch den Bildern von der Natur und den Mitteln, die er selbst sich zur Regulierung der Natur ersonnen hat. Natürlich sind diese Bilder, Strukturen und Instrumente ganz besondere 'Naturprodukte'. Sie sind in Analogie zum Subjekt zu sehen, das als ein ganz besonderes Naturwesen die Natur zu transzendieren sucht. Gehen wir von dem Gegensatz des Subjekts zum Objekt 'Natur' aus, dann stehen diese Naturprodukte zweiter Ordnung als Subjekt-Hervorbringungen in Gegensatz zur Natur. Diese Kulturobjektivationen stehen als hervorgebrachte Objekte aber zugleich auch in einem fortdauernden Gegensatz zu dem sie hervorbringenden Subjekt. Diesem Aspekt gibt Simmel eine besondere Note. Denn der subjektive Geist erzeugt, wie er betont, in dieser Gegenüberstellung zur Natur „unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt“[9]. Das letztere, die Unabhängigkeit der Hervorbringungen des Geistes von ihrer Aufnahme durch andere, scheint in systematischer Betrachtung, beispielsweise angesichts der konstitutiven Bedeutung des Rezeptionsakts in der Ästhetik, von Simmel etwas zu vorschnell gesagt, bzw. zu ungenau formuliert. Die Behauptung einer gänzlichen Unabhängigkeit der 'objektiven' Formen und Inhalte von rezeptiver Akzeptanz grenzt an eine falsche Behauptung. Doch zunächst soll es hier nur um eine rationale Rekonstruktion von Simmels Position gehen, und eine Grundplausibilität wohnt dem Gedanken von der Selbständigkeit der Objektivationen durchaus inne.

An Beispielen für solche Objektivationen des Geistes, denen sich das Subjekt gegenübersieht, nennt Simmel Recht, Religion, Technik, Wissenschaft und Sitte. Damit ist schon der Formgegensatz benannt, den Simmel lebensphilosophisch als Gegenstellung zwischen dem ‚subjektiven Leben, das „rastlos aber zeitlich endlich ist“ und dem zum Objekt gewordenen Geist ausweist. Der objektivierte Geist stellt sich der strömenden Lebendigkeit der subjektiven Seele entgegen, da er „einmal geschaffen“, nach Simmel eben „zeitlos gültig ist“[10]. Auch hier wäre die ‚zeitlose Gültigkeit’ erläuterungsbedürftig, doch als Gegenbild zum pulsierenden Leben versteht man durchaus, in welcher Weise die Kulturobjektivationen 'zeitlos' genannt werden können, auch wenn man kein platonisches Ideenreich ontologisch bemüht.

Die Pointe der Simmelschen Überlegung zur Kultur ist jedoch mit dieser Gegenstellung des zeitlichen, rastlosen, lebendigen Subjekts zu den Objektivationen seines Geistes noch nicht erfaßt. Entscheidend ist die Rolle der Objektivationen.

Simmel kennzeichnet sie als Stufen auf dem Weg der „Seele von sich selbst zu sich selbst“ (Simmel Tragödie: 36), was er in zahlreichen Formulierungen immer wieder umschreibt. So benennt er recht klar als Telos der Kultur: „Strömung von Subjekten durch Objekte zu Subjekten“ (Simmel Tragödie: 47). Und deshalb definiert er bereits eingangs ‚Kultur’ als „Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit“ (Simmel Tragödie: 27). Speziell in dieser Formulierung finden wir Simmels Grundgedanken ausgesprochen. Er denkt an eine spezifische Wechselwirkung vor jeder Kausalität und - zumindest in abstracto - vor jeder Sozialität. Immer geht es darum, daß die Seele mittels der Kultur ihren eigensten Trieb und ihre subjektive Vollendung gemäß dem ihr innewohnenden Prinzip erreicht. Wo Perfektion nicht als Vervollkommnung der seelischen Eigenentwicklung verstanden werden kann, gibt es nach Simmel so wenig Kultur, wie dort, wo nur subjektive Eigenentwicklung vorliegt, die keiner objektiven Mittel und Stationen bedarf. 

Simmel bezeichnet es als „Paradoxon der Kultur“, daß das subjektive Leben, „das von sich aus auf seine innere Vollendung drängt, diese Vollendung, von der Idee der Kultur aus gesehen, gar nicht aus sich erreichen kann“, sondern nur über jene „kristallisierten Gebilde“ wie Kunst, Recht etc. „Kultur entsteht, indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektive geistige Erzeugnis“[11].

Zivilisation verwendet Simmel übrigens in Übereinstimmung mit dem damaligen - und auch heute in Deutschland vorherrschenden - Sprachgebrauch als Kennzeichnung für rein Äußerliches, nicht etwa für die so bezeichneten ‚kristallisierten Gebilde’ der Objektivation des Geistes. Kultur geht in keinem Fall in Zivilisation auf. Das muß immer mit bedacht werden, damit man nicht Simmels Kulturbedenken lediglich als zivilisationskritischen Vorbehalt mißversteht. 

Jedenfalls bestimmt die Grundopposition zwischen a) dem Leben der schaffenden Seele und b) deren „ideell unverrückbarem Produkt“ die Kultur ihrem Wesen nach. Vor allem angesichts der „Rückwirkung“ der geistigen Objektivationen auf die Seele spricht Simmel von Tragödie. Kultur vermag jene Lebendigkeit, der sie sich selbst verdankt, erstarren zu machen, so daß es so ist, „als ob die zeugende Bewegtheit der Seele an ihrem eigenen Erzeugnis stürbe“ (Simmel Tragödie: 31). Auf diese Weise tritt die tiefe Feindschaft zwischen dem Lebens- und Schaffensprozeß und den Inhalten und Resultaten dieses Prozesses zu Tage. Aber - und das ist die Volte Simmels, diese fatale Rückwirkung ist dennoch die Bedingung der seelischen Entwicklung! Die Integration des objektivierten Geistes entwickelt erst die Möglichkeiten der lebendigen Seele. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Simmels Intuition sich nicht aus der romantisierenden Vorstellung speist, daß, wie auf der ersten Ebene, der Ebene der Natur, der Tod als die Bedingung des Lebens gesehen werden muß, so auch in der Kultur die Individuen tausendfach den Preis dafür zahlen müssen, daß die Höherentwicklung der Seele über den Geist und die Kultur erstrebt werden kann. Die Objektivationen des Geistes sind so zwar für die Subjekt-Objekt-Spaltung der ersten Ebene, Mensch-Natur, Heilmittel. Das Heilmittel ist jedoch zugleich auf der zweiten Ebene todbringende Arznei. Man könnte sagen: je besser die Natur bewältigt oder auch überwältigt wird, um so stärker wird auch der Spielraum der Seele eingeschränkt.

Es gibt demnach eine fatale Progression und ein zusätzliches Problem. Neben der Bewältigung der Natur, die zugleich Selbstfesselung ist, gibt es ein vielfaches Überwältigtwerden durch die Zeit. Am Leiden an der eigenen Vergangenheit und am eigenen Dogma, ja an der eigenen Phantasie, am Leiden also am Eigenen, verdeutlicht Simmel, daß die „Produkte des objektiven Lebens zugleich einer nicht verfließenden zeitlichen Ordnung von Werten angehören“ (Simmel Tragödie: 31). Die Vergangenheit überholt den Menschen als Ewigkeit. Ich hatte auf Wittgensteins Nebenbemerkung zur Tradition hingewiesen, daß, wer eine bestimmte Tradition (i.e. Kultur) nicht habe, wie ein unglücklich Verliebter sei, da sich Tradition sowenig wie Liebe einfach durch äußeren Vollzug gewinnen lasse. Bei Simmel steigert sich dieses Problem, das ein Problem des Unvermögens ist, die Vergangenheit zu einer lebendigen Kraft des gegenwärtigen Lebens werden zu lassen, zur Ausweglosigkeit, daß derjenige, der die Tradition hat, sie schließlich nicht mehr zu tragen vermag, und derjenige, der sie nicht hat, ihre notwendige Entwicklungskraft nicht nutzen kann. Das Leiden an der Vergangenheit ist zweifach: sie ist zuviel (und stellt zuviel an Anspruch der Tradition) oder sie steht subjektiv gar nicht zur Verfügung. Leiden an einer Nicht-Vergangenheit oder Leiden an einer Übervergangenheit. Das ist die Alternative. Vor allem der Blick auf die Problematik des erfolgreich Realisierten, das aus der Vergangenheit die Zukunft belastet, beschäftigt Simmel. Mißlingen aufgrund von Gelungensein. So kann Simmel das tragische Moment akzentuieren, das darin besteht, daß im Erfolg des eigenen Schaffens der Untergang des Eigenen bereitet wird.

Doch damit verstellt er sich möglicherweise auch den Blick auf den Ausweg aus dem Dilemma. Ich komme darauf in der Betrachtung des allgemeinen Werthorizonts sprachlicher und ethischer Bedeutung zurück. Jedenfalls wird bei Simmel die Vergangenheit, auch soweit sie positive Leistung des Subjekts ist, gerade in der Beförderung des Eigenen zum Klotz am Bein. Das Eigengewicht der gelungenen Sache selbst macht sich bemerkbar. Die Welt gewinnt an Wert und an Werten, beispielsweise mit jedem neuen Kunstwerk - und verunmöglicht individuelle Wertrealisierung. Ein wenig können wir die Problematik ahnen, fast das Simmelsche Entsetzen nachfühlen, wenn wir sein Beispiel des gemalten Sonnenuntergangs aufgreifend, an das zehntausendste oder hunderttausendste Bild des immer wieder grandiosen Sonnenuntergangs in der Bucht von Dubrovnik denken. Doch ist dies wirklich ein Problem, ist es ein wirkliches Problem?

Simmel entwickelt aber ohnehin die Problematik aus der entgegengesetzten Perspektive. Nicht die Depotenzierung der Kunst - wie im Postkartenbeispiel - benennt das Grundproblem, eine Hyperpotenzierung führt in erster Linie zur Tragödie der Kultur[12]. Jedem Kulturwert, der das seelische Leben weiter entwickelt und den Raum des Erlebens für das Subjekt öffnet, korreliert ein Sachwert. Kultur ist zwar immer Synthese der Höherentwicklung des Subjekts und der Weiterentwicklung des Sachwerts, doch die eigengesetzliche Entwicklung des Sachwerts zieht die Entwicklung des Subjekts nicht in Betracht. Die Objektivationen des Geistes sind Kulturwert nur soweit als sie zur Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit beizutragen vermögen. Sachwert benennt hingegen die Wertigkeit der Objektivation im Verhältnis zu den anderen Objekten geistiger Bedeutsamkeit[13]. Keinesfalls darf man daher bei der Opposition von Kulturwert und Sachwert an die Gegensetzung von Marktwert und ideellem Wert denken. Kulturwert und Sachwert sind beides ideelle Werte, die aber insofern nicht zusammenfallen, als einmal die subjektive Vervollkommnung durch die Objektivation in Rede steht, das andere mal, beim Sachwert, die objektive Einordnung, beispielsweise eines Kunstwerks. 

Die Disproportionalität von ‚Sachwert’ und ‚Kulturwert’ verschärft nach Simmel das Problem der Kultur als Förderung der seelischen Gesamtentwicklung wesentlich, wenn Kultur nur als Synthese einer subjektiven Entwicklung und eines objektiven geistigen Werts verstanden werden kann. Der Sachwert, der sich der Kultur verdankt, entwickelt sich schließlich zwangsläufig eigengesetzlich in völliger Unabhängigkeit vom Kulturwert, der ja an die Entwicklung der seelischen Gesamtpersönlichkeit gekoppelt bleibt. Die höchste Kunst und die bedeutendsten Kulturleistungen haben unter Umständen praktisch gar keinen Kulturwert mehr, während eher mediokre Wertobjektivationen, die aber in Simmels Konstrukt immer Werte bleiben und gleichsam am Ewigkeitswert der Kunst partizipieren, die Kultivierung befördern. Die Objektivationen, deren Sachwert nicht in Kulturwert übergeführt werden kann, stehen aber dann als kulturelle Herausforderungen ähnlich der Herausforderung 'Natur' dem Subjekt gegenüber, jenem Subjekt, das doch gerade durch Schaffung dieser Werte den Gegensatz von Subjekt und Objekt in den Griff zu bekommen suchte.

In verschiedenster Weise macht Simmel einen „überspezialistischen Ertrag“ als Problempunkt aus[14], doch eben diese Spezialisierung gehört auch zum Wesen der sachorientierten Leistung. Besonders bezüglich der Arbeitsteilung gelingen Simmel dabei gute Beobachtungen. Er verknüpft damit den Hinweis, daß die Objektivität des geistigen Inhalts unter Umständen auf die Seite der Produktion ohne Intentionalität fällt, ein kühner und fruchtbarer Gedanke, dem ich hier jedoch nicht weiter nachgehen kann[15]. In vielfacher Weise scheint Simmel bei seinen Beobachtungen problematische, zukünftige Entwicklungen der Weltzivilisation an der spezifischen Situation abzunehmen. So spricht er mit Blick auf die technische Seite der Objektivationen, davon, daß ein Zwang zu beobachten sei, alle einmal geschaffenen Einrichtungen voll auszunutzen (Simmel Tragödie:51), was dann wiederum „sinnlose Bedürfnisse“ wachrufe. Sein Beispiel für die Wissenschaft, wo die Ausarbeitung und Verfeinerung der philologischen Technik gleichsam zu einem Leergang der Methode geführt habe, entbehrt im Blick auf heutige Gefährdungen ebenfalls nicht der Plausibilität.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß verschiedene Problemverläufe, die in einem Punkt kulminieren, die Entwicklung der Kultur kennzeichnen:

1) Zunächst ist die schlichte Menge der geistigen Objektivationen als Herausforderung und Überforderung zu benennen. Diese stellen sich gegen das lebendige, schaffende, seelische Leben, weil sie zwar vielleicht noch internalisiert werden können, jedoch nicht mehr kreativ genutzt. Aufgrund der idealen, unvergänglichen Natur der Objektivationen nimmt diese Menge ständig zu - Höherentwicklung führt zu quantitativer Überforderung

2) Eine Verstärkung des Gegenakzents zum subjektiven Leben erfolgt durch den großen Anteil geistiger Objektivationen, die in ihrem Sachwert vom Kulturwert losgelöst existieren. Dabei negieren nicht nur die Spitzenleistungen der Kunst den Kulturwert, aber gerade auch die Höchstleistungen. - Höherentwicklung führt zu qualitativer Überforderung

3) Die fortschreitende Spezialisierung aus der Eigenlogik der Objektentwicklung umstellt den Einzelnen mit zu spezifischen und für ihn deshalb nicht brauchbaren Mitteln zur Beförderung der Entwicklung. Gleichwohl fordern ihn diese Objekte als Kulturteilhaber heraus. - Eine qualitative Sach- Korrelationsüberforderung (als Sonderfall von 2) ist die Folge.

4) Die Menge der Werte steigt auch in Abhängigkeit von der Menge der wertschaffenden Personen in unvorstellbare Höhen (Steigerung von 1) - quantitative Relationsüberforderung hinsichtlich personaler Subjekte. - Man könnte dabei an den Wissenschaftsausstoß denken.

 

Simmel meint eine schlichte Folgerung aus diesen sich ergänzenden und verstärkenden Problemen ziehen zu können. Mit der „unorganischen Anhäufbarkeit“ werden die Objektivationen des Geistes der „Form des persönlichen Lebens im Tiefsten inkommensurabel“ (cf. Simmel Tragödie: 53). Wohlgemerkt, der Hauptpunkt liegt nicht in der Verflachung der Kultur, nicht in der Dekadenz und auch nicht in einem generellen Ungenügen kultureller Leistung. Die Tragödie der Kultur, und ebendeshalb spricht Simmel von 'Tragödie', liegt darin, daß die Erhöhung der Kultur gelingt, und dieses Gelingen, ihr Erfolg, sie in diesem Erfolg und dank dieses Erfolges selbst aufhebt.

Simmel entwirft also ein bedrückendes Bild, das wir an einigen Kulturphänomen zweifellos bestätigen können. Quantitative und qualitative Überforderung, Überspezialisierung und Sozialstress. Im Blick auf den Wissenschaftsausstoß und die Kunstproduktion, hinsichtlich der Technisierung elementarster Lebensbereiche wie bezüglich der Globalisierung, scheint Simmel die Überforderung des Einzelnen, um den es geht, nicht ganz Unrecht als Menetekel an die Wand zu malen. Löscht die Kultur das Leben aus? Sind die postbiotischen und transhumanistischen Fantastereien, die heute in Ansätzen versuchen, kulturell das Menschenbild zu prägen, etwa Signum dafür?

Eines fällt allerdings auf. Simmel versäumt es, den Anderen konstitutiv in die, für die Möglichkeiten seelischer Vollendung zweifellos entscheidende Etablierung von bedeutungsvollen, d.h. werthaften Objektivationen einzubeziehen. Seine Erzählung konzentriert sich auf das schaffende Subjekt im Kampf mit den geistigen Objekten. Ist aber nicht der andere Mensch mehr noch als die Kunst für die Seele und die seelische Entwicklung konstitutiv? Und ist nicht der andere Mensch selbst für die Kunst noch konstitutiv?

Ich würde sagen, daß sich auf der theoretischen Ebene Simmel von einem Bild gefangen nehmen läßt. Um dies zu verdeutlichen nehme ich eine Generalisierung vor, die Simmels Lehre von der fatalen Progression der Kulturwerte an der sprachlichen und ethischen Bedeutung expliziert. Ich beziehe mich damit auf Fundamentalanthropina, für die einerseits die Simmelschen Kulturcharakteristika beobachtet werden können, bei denen andererseits ihr lebendiger Charakter klar zu Tage liegt.

III Generalisierung auf sprachliche und ethische Bedeutung

Unter dem Blickwinkel von kultureller Objektivation können die Probleme der ethischen Norm und der sprachlichen Regeln in das gleiche Strukturbild gebracht werden, das Simmel für Kulturwerte entwirft - und Friedrich Nietzsche hat entsprechende Überlegungen skizziert. Keineswegs zufällig hat Nietzsche Kultur mit den Ressentiments- und Reaktionswerten[16] gekoppelt. In stringenter Logik griff er Sprache und Moral zugleich an, attackierte beide als Etablierung von Kristallisationsstrukturen, die den lebendigen Fluß der Metaphern starr werden lassen. Eiswüsten beschwört Nietzsche als Bild.

Man kann sich an Nietzsche, dem Gewährsmann der kulturphilosophischen Fraktion der Lebensphilosophie, so verdeutlichen, daß die Konzeption der Kulturwerte bis auf die elementare anthropologische Ebene durchgreift. Simmels Überlegungen lassen sich demnach zwanglos auf die ‚Sonderfälle’ sprachlicher und ethischer Bedeutungswerte übertragen. Stellen diese Sonderfälle, Sprache und Ethik, aber nicht andererseits, so meine Frage, als anthropologische Grundlagen Simmels Szenario in Frage? Formuliert Simmel nicht eigentlich mit seiner Problematisierung der Kulturwerte einen Verdacht gegen die Sprache und die Moral, der sich so nicht aufrechterhalten läßt? Trotz Nietzsches gar nicht so unzeitgemäßer Verdikte und Hofmannsthals Sprachskepsis? 

Verdeutlichen wir uns zunächst welche Grundproblematik Simmel mit seinen Beobachtungen anspricht. Auf seine elementarste Form gebracht, läßt sich das Problem als Verhältnis zwischen Bedeutung als idealer Form und zeichenhafter Realisierung dieser Form in der unmittelbaren Äußerung beschreiben. Wir haben es mit einer Form - Performanzproblematik zu tun, insofern im praktischen Vollzug auf eine ideale Form Bezug genommen wird. Das würde für Simmels Bezugnahme auf Objektivationen des Geistes generell gelten. Es beträfe sowohl die performative Realisierung einer idealen Sprachkompetenz wie die gelebte Moral, die ja nichts anderes ist als die Performanz einer idealen Normvorgabe - welcher Art auch immer.

 

Zwei Probleme, das des objektiven Gehalts und das der subjektiven Verwirklichung, drängen sich generell bei idealen Objektivationen dieser Art, ob diese nun Sprache, Kunst oder Moral betreffen, auf. Das erste läßt sich in die Frage kleiden: 'Wie ist die Form als objektives Beharrungsmoment erfaßbar?' Die Frage kann dabei auch in der Form gestellt werden, 'wie ist die ideale Bedeutung greifbar und realisierbar?' In den oben skizzierten Simmelschen kulturellen Progressionslinien einer qualitativen Überforderung[17] klingt diese Problemstellung an. Denn der Simmelsche Sachwert kann - wie wir uns im Blick auf Kunstwerke verdeutlicht hatten - als objektiver Gehalt verstanden werden. Und dieser objektive Gehalt tritt auf der Sprachebene als Bedeutung und auf der moralischen Ebene als normative Regel oder Gesetz auf .

Als zweites Problem ließe sich dann benennen: 'wie weit ist es möglich, den subjektiv-seelischen Ausdruck, das kreative Element, unter Integration der etablierten Formen zu realisieren? Das ist, in nur leichter Veränderung, die Simmelsche Frage nach dem Verhältnis von lebendigem Seelenausdruck und ideal gültigem Kulturwert. Diese Fragestellung hat im Grunde zwei Facetten, deren eine als Kreativitätsproblem: 'wie kann ich mich in meiner subjektiven Verfaßtheit in kulturellen Objektivationen ausdrücken?' zutage tritt, deren andere als Rezeptionsproblem: 'wie kann ich mir die gegebenen Objektivationen in subjektiv fruchtbarer Weise anverwandeln?' greifbar wird.

Wie stellt sich die Situation nun bei der Sprache dar?

Sprache scheint zunächst, verstanden als System, nur wenige Möglichkeiten bereitzustellen, den subjektiven Ausdruck auf der Bedeutungsebene zu bewahren, eher scheint sie, wie Nietzsche nicht müde wird zu behaupten, den lebendigen Atem der Rede abzutöten. Die persönliche Ausdrucksebene läge auf der Ebene des Stils oder auf der Ebene der Prosodie, vielleicht auch auf der Ebene von paralinguistischen Phänomenen jenseits des Sprachsystems. In dieser Hinsicht scheint die Sprache als kulturell etabliertes System für die Lösung des Problems der subjektiven Verwirklichung wenig Raum zu bieten.

Fraglos aber gilt: Sprache als Kommunikationssystem stützt sich auf etablierte Formen, auf geistige Werte wie Bedeutungen und andere Objektivationen, die uns in abstrakten Regeln faßbar werden, und die für uns gelten. Sprache wäre so ein ausgezeichneter Kandidat für die Illustration der Kulturproblematik, denn auch ihre Leistung für die Höherentwicklung des Seelischen wäre evident. Lediglich die quantitative Steigerung und Überforderung durch ständig neue Werte scheint unerachtet der subjektiven Problematik mit den kristallinen, unveränderlichen Objektivationen bei der Sprache nicht in dem Maße gegeben, wie es Simmel für kulturelle Objektivationen annimmt. Doch pulst das Leben in der Sprache?

Die tatsächliche Bedeutung der von Nietzsche vermittelten Einsicht, daß jede, aber auch jede Inhalts-Äußerung bereits eine begriffliche Vergewaltigung gegenüber dem reinen Lebensstrom - nicht erst gegenüber dem Bewußtseins-strom[18] - darstellt, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Rede und Leben können, wenn überhaupt, nur in einer prekären Marginalie, d.h. in einer Randberührung, im Fall von 'Erstworten', zusammen kommen. Jede Wiederholung und Verfestigung der Form entfernt uns jedoch - darin hat Nietzsche sicher Recht -, in gewisser Weise weiter vom Lebendigen, vom Ursprünglichen, vom Schaffensmoment. Im Sprechen, in der Saussureschen 'parole', der Chomskyschen 'performance', bleibt noch Leben spürbar, das jedoch gegen die kristalline Struktur des Systems behauptet werden muß, ja vielleicht nur als 'Fehler im (kulturellen) System' möglich wird.

Von daher rührt Nietzsches erstaunliches Plädoyer für das Stammeln vom Eigenen, wenn man denn reden muß und will. Es ist dies ein Plädoyer für das Stammeln von einer, von einer eigensten Tugend, statt der Rede von Tugenden in Allgemeinbegriffen[19].

Die Ursprungskraft des Stammelns zeigt sich dann nicht in der Semantik der Worte, nicht in den Bedeutungen als jenen kulturellen Objektivationen, die Sinn erzeugen, sondern als Ausdruckswirkung. Subjektiv wie eine Liebeserklärung. Je mehr wir aber diese Kraft fassen, und sie als Gefasstes, d.h. als Form zur Verfügung haben, um so weniger kann es uns gelingen, uns, - uns selbst! -, das performative Wahrheits- und Wirkmoment der Realisierung zu erhalten. Dies gilt selbst dann, wenn wir äußerlich, z.B. dank geschickter Rhetorik, Wirkungserfolg haben sollten.

Zwei Aspekte scheinen sich dabei zu überschneiden: der Sachwert arbeitet gegen die lebendige Kraft der Seele und zudem scheint der als Sachwert verobjektivierte Kulturwert die Bedeutungsdimension auch noch verfehlt darzustellen. Der Sachwert 'Bedeutung' entbehrt damit des Werts. Worin kommen wir dann aber überein, wenn wir uns gemeinsam auf einen Bedeutungswert beziehen, der ja nicht lediglich die subjektivierte und individualisierte Variante zur Objektivation sein kann. Nietzsche sagt polemisch: in der Lüge, in einer Konvention, gemeinsam zu lügen, stimmen wir intersubjektiv überein. 

Das sieht strukturell nicht nur Nietzsche so. Levinas plädiert wegen der falschen Bedeutungs-objektivationen für ein kontinuierliches Ab-Sagen, ein dédire gegenüber allem thematisch Gesagten und stimmt in diesem dédire, der Absage gegenüber dem dit als dem Gesagten, mit Nietzsche völlig überein. Doch gleichzeitig betont Levinas die Notwendigkeit der Fassung des subjektiv Gefühlten im Gesagten, die Unvermeidbarkeit der Bezugnahme auf Bedeutungswerte und Thematisierungen. Auf diesem Boden erwächst die Einsicht, daß die Form, die Idee, ja selbst noch die ‚lügnerische’ Verfestigung notwendig sind, wenn überhaupt etwas gesagt werden soll. 

Das alles klingt nun mehr nach einer Bestätigung des von Simmel Vorgebrachten, denn nach einer Widerlegung der Simmelschen Überlegung zum Wert der Kultur. Die lebensverneinende und Individuen negierende Kraft der geschaffenen Kulturwerte wird mit der Infragestellung eines sprachlichen Sachwerts als echtem Bedeutungsgehalt noch gesteigert. Nietzsche fragt deshalb nach dem Wert der Werte!

Wie ist also beides zusammenzubringen? - ursprüngliche Lebensäußerung und geltende Formen und Werte. Wittgenstein hat für die Sprache bekanntermaßen eine bemerkenswerte Lösung des Problems parat, die gleich beiden angesprochenen Problemen, dem des objektiven Gehalts und dem der kreativen Fortschreibung durch das Subjekt, gerecht wird. Man könnte von einer Dynamisierung der Bedeutung und von einer Auflösung der festen Form durch die spielerische Etablierung eines Netzes sprechen. Am augenfälligsten ist dies bei der Propagierung des Terminus 'Familienähnlichkeit'[20], der die Eindeutigkeit einer festen semantischen Zuordnung von Begriff und Bedeutung aufhebt und doch eine unbeliebige Bedeutungsbestimmung ermöglicht. Doch dies bietet nur ein mehr oder weniger technisches Beispiel für Variationsfreiheit und Bedeutungssicherheit. Entscheidend ist Wittgensteins Konzept des Sprachspiels, das den lebendigen Umgang mit der Sprache in Verknüpfung mit ihrem Gebrauch im alltäglichen Leben und ihrer Fundierung in einer Lebensform zum Schlüsselmoment erklärt. Es gibt Sprachspiele, die ein streng logisches Gerüst zugrundelegen, und Sprachspiele, die eine weite Variationsbreite haben. Wittgenstein vergleicht die Sprache in ihrer Verbindung unterschiedlichster Sprachspiele mit einer alten Stadt und stellt das 'Gewinkel von Gäßchen und Plätzen' den 'Vororten mit geraden und regelmäßigen Straßen und einförmigen Häusern' gegenüber[21]. In dieser Gegenüberstellung kann man, so man will, noch die Vorstellung eines organisch gewachsenen Sprach-Gefüges gegenüber einem formal konstruierten Logik-Gerüst entdecken. Der eigentliche Schlüssel aber liegt in der umfassenden Lebensform, die sich in einem offeneren oder geregelteren Umgang mit dem Veränderungspotential der Sprache oder der Kultur ausdrücken mag. Prinzipiell aber bleibt die Sprache grundsätzlich offen auf Veränderung und bietet so dem einzelnen Individuum zugleich sozialen und praktischen Halt und kreative Offenheit. 

Das Zeichen lebt im Gebrauch[22]. Die Bedeutung ist zwar Vorgabe, aber sie ist dennoch nachträglich konstituiert. Sie wird als jeweilige Vorgabe, als etablierte Form, in der Anwendung zugleich in Anspruch genommen und in Frage gestellt. Die Anwendung bleibt immer Kriterium[23]. Das würde für den Ursprung der Sprache gelten wie für jede lebendige Modifikation des Sprachsystems. Sprache lebt.

Die erste Konstitution von Bedeutung gleich welcher Art wäre so zu denken, daß ein Sprecher durch eine im vorgegebenen Rahmen ungegründete Verwendung eines neuen Ausdrucks ein Bedeutungsansinnen stellt. Die Bestätigung durch einen anderen Sprachteilhaber macht daraufhin überhaupt erst den Start zu einer Bedeutungs- und Wertetablierung im Wechselspiel von Anwendung und Akzeptanz möglich. Es kommt dabei stärker auf die erste Interpretation durch die anderen und die Verfestigung dieser interpretativen Aufnahme und Übernahme an, denn auf die Intention des Subjekts. Man könnte von einem Wechselspiel um Nichts (materiales Ereignis) und Alles (ideale Bedeutung) sprechen. Das Resultat ist offen und bleibt offen. Mit einer kleinen Volte haben wir, wenn wir die Etablierung sprachlicher Bedeutung so in Analogie zur Etablierung sonstiger kultureller Objektivationen bringen, eine ganz andere Situation für die Kulturwerte geschaffen, als sie Simmel beschreibt. Garant sind nicht mehr abstrakte unveränderliche Entitäten, die sich einsamer subjektiver Seelenleistung verdanken. Garant der (relativ) festen Form und Bedeutung ist eine Sprach- bzw. Kulturgemeinschaft. Kriterium ist der andere Kommunikationspartner in bezogener Aktion und Re-Aktion. Dieses interaktive Spiel hat einen klaren Vorteil, wenn wir an das Problem kristalliner Verfestigungen denken, die in unendlicher Anzahl und in ewigem Formanspruch uns bedrängen. Die Formen werden dynamisiert. Zugleich wird die Dynamisierung, die Verlebendigung der Formen so nicht durch eine Negation und einen Rückgang zu welch natürlichem Ursprung auch immer - dies ist ohnehin ein falscher Mythos - geleistet, sondern über den Anderen und die Zeit bewirkt.

Betrachten wir die Angelegenheit der Sprache so, dann ist zwar eine Lösung des Problems der idealen Formen in Sicht. Doch man muß eingestehen, daß die festen Formen nun weitgehend aufgelöst scheinen.

Zudem erscheinen uns in dieser Perspektive die temporären Kristallisierungen und die idealen Übereinstimmungen bedauernswert unexakt, ja fatal fehlerbehaftet. Sie sind in einer Weise zu weit, in anderer scheinen sie zu speziell für die persönliche, ausdrucksvolle Rede. Sie treffen nicht!  Nicht die Idealbedeutungen - falls es sie gibt - und nicht die zutiefst empfundenen, lebendigen subjektiven Empfindungen. Eine solche Beschreibung des Geltungsraums 'Sprache' ist freilich nicht ganz unzutreffend. Doch daß die Sprache keine kristallklare Bedeutung offeriert, ist nicht einfach ein Manko. Jene Differenz zu den idealen Werten zeichnet die menschlichen Werte als gelebte Werte aus. Das Ungenügen, der Mangel, ist das Surplus. Eine schwebende Verankerung ersetzt die ohnehin problematische Kristallisation.

Die in gewisser Weise hinsichtlich der Sprache bedrängende Frage: „Wie soll ich wissen, was er meint?, ich habe doch nur seine Zeichen“, - zu ergänzen wäre argumentativ: ,wenn doch kein idealer Bedeutungswert als stabile Bezugsgröße zur Verfügung steht’ -, diese Frage weist Wittgenstein in raffinierter Form zurück: „wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen“ (Hervorhebung bei Wittgenstein)[24]. Kulturwerte können also in einem prinzipiell unabgeschlossenen, auf den anderen Kultur- bzw. Sprachteilhaber hin ausgelegten Spiel als frei schwebende und doch Halt gebende Konstruktionen verstanden werden.

Ein Blick auf die Ethik bestätigt diesen Befund. Abgesehen davon, daß es mannigfache Gründe gibt, Sprache und Ethik gerade in der Etablierung von Normen und Bedeutungswerten auf das Engste zu koppeln, was letztlich mit unterschiedlichen Vorzeichen Nietzsche, Levinas und Heidegger tun[25], ist an der Ethik unmittelbar abzunehmen, daß die Kulturleistung der Normierung der Lebensform mit dem Ergebnis einer Auszeichnung einer Moral nur in Analogie zur stabilen Freiheit und flexiblen Stabilität der Sprache gedacht werden kann. Wir können das Recht in weiten Teilen als eine konkrete Objektivationsform der Ethik ansehen und die Moral als eine praktische Umsetzung ethischer Vorgaben. Obwohl der formale Ausbau der Objektivation im Recht sicher Aspekte der von Simmel beschworenen quantitativen und qualitativen Überforderung zeigt, bleibt doch eine aus dem Ethos heraus geforderte Dynamik der Rechtsprechung und der Rechtsetzung bestimmend. Und darüberhinaus scheint Levinas mit seiner Anbindung des ethischen Gebots an die konkrete Begegnung mit dem anderen Menschen zu Recht eine unabweisbare Dynamisierung einzufordern. 

III Von der Sprache zurück zur Frage des Begriffs der Kultur

Gehen wir in den Schlußausführungen von den relativ gesicherten Verhältnissen der Sprache und den transzendierenden Momenten der Ethik zu den ungesicherten und unbestimmten Konstitutionsbedingungen der Kulturwerte zurück.

Simmel zeichnet zwar zu Recht die menschliche Seele als Quelle allen Wertes aus, doch genau in diesem Zusammenhang artikuliert er den entscheidenden Fehler, indem er ein naheliegendes Bild bemüht. Die menschliche Seele ergießt sich, nach Simmel, im Schaffen eines Kulturwerts, beispielsweise beim Malen eines Sonnenuntergangs, in eine der objektiven Werte-Welt zugehörige Form-Tatsache, die nun als solche objektive Bereicherung der Welt, „unabhängig davon, ob eine spätere Seele diesen hineingezauberten Wert wieder erlösen ... wird“[26], gegeben ist. Hier liegt Simmels Fehler. Ist es nicht viel plausibler anzunehmen, daß die Wertbasis im sozialen Bezug immer wieder neu verankert werden muß, justiert, auf ihre Tragfähigkeit hin erprobt werden muß? Das aber bedeutet, daß zum einen der Andere als entscheidendes Kriterium Berücksichtigung findet, zum anderen beinhaltet es, daß die Rezeption selbst, die Aufnahme der kulturellen Wertvorgabe als konstitutiv verstanden werden muß.

Wie durchlässig für Innovation und Modifikation eine bestimmte Kultur bleibt, scheint dann eher eine Frage der zugrundeliegenden Lebensform, denn daß der Kultur-Prozeß selbst automatisch zu jener kristallinen Bedrohung der Kreativität führt, die Simmel beschwört. Eine Lebensform kann den Raum für das Wechselspiel zwischen der Notwendigkeit je neuer Begründung und der gleich notwendigen Verpflichtung auf Traditionen und Vorgabeformen stärker offen halten oder stärker restringieren. Der Lebensphilosoph Simmel scheint jedoch im Blick auf die Tragödie der Kultur anzudeuten, daß die Lebenswelt in ihrem ganzen geistigen Gefüge grundsätzlich so geprägt ist, daß die Tragödie notwendig auf dem Spielplan der kulturellen Weltbühne steht, was bedeuten würde, daß alle Lebensformen, die wir eingangs doppelköpfig als a) Vermittlung der umfassenderen Lebenswelt an Kulturgemeinschaften und b) Gestaltungspotential des Individuums hinsichtlich sozialer Organisation bestimmt hatten, den tragischen Verlauf als ihre eigenste Struktur realisieren müßten. Doch das Phänomen, das er beobachtet, scheint die Auswirkung einer bestimmten Lebensform zu sein, einer Lebensform, die das dialogische Moment vernachlässigt und - wie Simmels Theorie - das kreative Moment der Rezeption unberücksichtigt läßt. Die Sprachbetrachtung legt dies zumindest nahe.

Simmel illustrierte das generelle Dilemma der Kultur, wie wir gesehen hatten, mit dem Dilemma des einzelnen Subjekts, das von seiner Vergangenheit, seinen eigenen Wertschöpfungen, Entscheidungen, Dogmen nicht nur eingeholt sondern gleichsam überholt wird, bis der Himmel von Kulturwerten völlig verstellt ist und das Subjekt in Immobilität verharrt. In Simmels Modell erwächst aus einer Art Objektivitätsüberschuß der unverrückbaren faktischen Vorgegebenheit des Vergangenen, speziell in der Form vergangener Wertsetzung, eine zunehmende Einengung des inneren Lebens. Wittgensteins Beispiel von der schmerzhaft als unverfügbar erfahrenen Tradition benennt zwar zunächst ebenfalls ein Ungenügen, das aus der unveränderbaren Gegebenheit der Vergangenheit resultiert. Doch wenn wir der phänomenologischen Maxime Wittgensteins: „Denk nicht sondern schau!“ folgen, sehen wir, daß es bei ihm gleichwohl eine Annäherung, eine verändernde Einübung in Tradition gibt. Die Tradition selbst mag sich dabei - und wird sich dabei etwas ändern - und der unglücklich Verliebte, falls er Perfektionist ist, wird unglücklich bleiben. Doch die Kraft der Vergangenheit bewahrt sich und bewährt sich in der Ausgestaltung der Zukunft. Die Vergangenheit vermag  eine lebendige Kraft zu sein. Wie in Sprache und Ethos.

In dieser Perspektive erlaube ich mir eine Anmerkung zur Stabilität und Geltung moralischer Werte. Es wäre falsch, den ethischen Horizont zur Gänze in der gleichen schwebenden Verankerung wie die Tradition zu denken. Ethik ohne die Annahme einer begründeten und begründenden Wertsetzung wäre leer. Doch die kulturelle Wertsetzung im Blick auf moralische Werte in ethischer Begründung erfolgt nicht aus dem Bezug auf eine feststehende, verfügbare Wertordnung, sondern lediglich im Horizont einer absoluten Verpflichtetheit. Selbst dort, wo mit dem Argument eines göttlichen Gebots direkt eine nicht relativierbare Wertsetzung in Anspruch genommen wird, muß sich die Auslegung je neu um den Sinngehalt des göttlichen Gebots bemühen. Die Werte als etablierte Kulturwerte benennen ein schwebendes Fundament. Der ideale Horizont eines göttlichen und absolut verbindlichen Wortes kann nicht einfachhin in Anspruch genommen werden. Wenn eine nachfolgende Generation in ethischer Reflexion die Grenzen der Moral neu und anders bestimmt, dann fügt sie nicht einfach dem Wertehimmel neue Werte hinzu oder korrigiert irgendwelche Fehler. Nein, sie leistet die von ihr je neu geforderte kulturelle Anpassung an das tradierte Erbe.

So richtig Simmels grundsätzliche Situierung der Kultur als Auseinandersetzung des Geistwesens Mensch mit der Natur, der er sich - und die er sich - als Objekt gegenüberstellt, sein mag. In einer Weise sieht er die Kultur zu naturnah, denn alle Pflege subjektiver Vermögen der Abbildung, Wertsetzung und der Techniketablierung zählt er sofort zur Kultur, indem er sie als geistige Auseinandersetzung mit dem Objekt Natur begreift. In anderer Hinsicht greift er zu weit aus in der Situierung der Kulturwerte und sieht sie sogleich ewigkeitsfern als Idealbilder einer platonischen, durch einen Chorismos von der Lebenswelt getrennten, idealen Sphäre. Zu nah, zu fern, d.h. zu auratisch, wenn ich mit Walter Benjamins Kennzeichnung der Aura: in der Ferne so nah, als klassischer Kulturwertauszeichnung spielen wollte.

Vielleicht sollten wir bei der Auseinandersetzung mit der Natur ohnehin nicht sogleich bei der Behandlung des Gegensatzes von Objekt und Subjekt von Kultur sprechen. Sollten wir nicht erst bei der Pflege solcher primärer Objektivationen als charakteristischem Kulturprozeß ansetzen, und diese Pflege als einen dynamischen Prozeß verstehen? Mit den Kulturobjektivationen könnten wir dann bei der höherstufigen Pflege solcher elementarer Auseinandersetzung mit der Natur, also anthropologisch eine Stufe später, einsteigen.

Ein solches Kulturkonzept, bei dem Kultur als späte Frucht, als eine 'Pflege der Pflege' verstanden wird, würde Simmels Anliegen bewahren und zugleich eine Ebene ausweisen, auf der sich die Tragödie vermeiden läßt. Kultur könnte sich immer schon, wie bei der Sprache, auf Vorgaben stützen, und in der Pflege dieser Vorgaben wertkonstitutiv, wenngleich nicht in kristalliner Ordnung, sondern in variabler Dynamik operieren. Die Wertetablierungen würden dann nicht als Internalisierung einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Natur verstanden und sogleich als unmittelbare Gegebenheiten einer idealen Überwelt gepflegt, sondern sie würden als Hervorbringungen des Menschen in einem lebendigen Spannungsfeld immer weiter gesponnen und weiter gepflegt.

„Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste“. Die Zeile aus Hölderlins „Socrates und Alcibiades“ wird von Heidegger auf die Bedeutung des Verbalen hin ausgelegt[27], um 'Denken' und 'Lieben' in Bezug setzen zu können. Man könnte dieses Paar von Denken und Lieben durchaus als eine Form der lebensphilosophischen Gegenstellung zur Rationalitätsemphase, die das Rechnen und Verfertigen unterstreicht, verstehen. Das Verbale betont statt der Kristallisation des Objekts den Fluß des Geschehens. Heidegger verknüpft dies mit der Frage nach dem, was ‚Sein des Seienden’ heißt. Als Antwort auf diese Frage offeriert er hier ‚Präsenz des Präsenten’ und sagt von dieser Antwort, sie sei „ein Sprung ins Dunkle“[28]. Ich habe das Hölderlinzitat meinen Ausführungen als Motto vorangestellt, weil es meines Erachtens die Lösung für das eigentliche Grunddilemma der Sprache und der Kulturwerte dunkel zum Ausdruck bringt. Das Zitat fordert eine Rückkehr zu einer Dynamik des Lebens, wie ich sie unter anderem in Wittgensteins später Sprachphilosophie, die Saul Kripke die skeptische Lösung eines hyperskeptischen Dilemmas genannt hat, zu finden meine. Wittgensteins Warnung vor einer Tiefgründigkeit, die der scheinbaren Oberflächlichkeit der Lebensform zugunsten einer theoretisch abstrakten Fundierung absagt, scheint mir dem zu entsprechen: "Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: 'So handle ich eben'"[29] Dies weist nicht nur einen Endpunkt theoretischer Begründung aus, es benennt auch ein kreatives Erfordernis im Umgang mit Regeln und der Anwendung von kulturellen Normen. 'Wer das Tiefste ...'

Man könnte die Ratio des Beispiels vom Spaten und der Grenze des Grabens als sinnvoller Fundierung in der Nutzanwendung für Ethik und Sprache, ohne einen Hauch von Beliebigkeit, formulieren als: ‚Tu was Du willst, wenn Du es wollen kannst’[30]. Dies beinhaltet: Stütze Dich auf den anderen, wenn du dich selbst verstehen willst, in Deinen Zeichen und Deinem Tun! Stütze Dich auf den Anderen, der Dich als Stütze braucht! Diese schwebende Basis trägt besser als kristalline Werte.

Simmel entwarf weniger das Bild einer Tragödie der Kultur qua Kultur. Er zeichnete vielmehr die Bedingungen, unter denen eine Kultur notwendigerweise scheitert. Wenn eine Kultur als Lebensform bei der Erarbeitung der kulturellen Objektivationen nicht das dialogische und rezeptive Moment mit dem kreativen Moment verknüpft, wird sie sich in ihren eigenen Fallstricken verfangen.

Nicht jede Kulturleistung bedroht also in ihrem Wesen zugleich die angestrebte Vervollkommnung der Seele und Verbesserung des Lebens. Bestimmte Lebensformen, die einen Umgang mit Kulturwerten, sei es definitorisch, sei es praktisch, zu exakt festlegen, vielleicht gar verrechnen, schaffen das Problem einer Festlegung, die sich am Schluß tatsächlich gegen die Schöpfer der Festlegung als eine Art Selbst-Fesselung wendet.  

Eine relative Bestätigung der hier ausgeführten Simmelkritik können wir auch in Cassirers Aufsatz „Die Tragödie der Kultur“ (1942) finden, der sich direkt auf den Simmelaufsatz bezieht. Denn Cassirer verweist darauf, daß das „Sich-mitteilen eine Gemeinschaft in bestimmten Prozessen verlangt", und daß die Gemeinsamkeit in der bloßen Gleichheit von Produkten nicht ausreicht[31]. Und Cassirer, der auch auf die Kulturleistung 'Sprache' als Erklärungsmodell Bezug nimmt, betont zum Schluß: „daß es vielleicht keinen einzelnen Akt des Sprechens gibt, der nicht irgendwie ‚die’ Sprache beeinflußte“[32].

Die kulturellen Werte sind als Objektivationen des Geistes eben entgegen Simmels Auffassung nicht unabhängig von der Aufnahme oder Ablehnung durch den Rezipienten sozial zu situieren. Die Sprache, wenn nicht die höchste, so doch sicher die fundamentalste Kulturleistung des Menschen, zeigt dies. Die Sprache lebt. Dies bedeutet keine Begabung der Sprache mit irgendwelchen okkulten Qualitäten, sondern sagt schlicht und einfach, daß die Sprache in ihrem Kultur- wie Sachwert als Brücke zwischen verschiedenen Subjekten einer Sprach- und Kulturgemeinschaft fungiert und sich mit diesen Subjekten als einer Art Brückenpfeiler ändert. Verstehen wir kulturelle Objektivationen generell in solcher Brückenfunktion zwischen beseelten Individuen, dann haben wir intern bereits das Aufbrechen der kristallinen, einengenden Strukturen sichergestellt. Nicht das Verhängnis einer Tragödie ist das auffallende und entscheidende Merkmal der Kultur, die spannungsvolle Unsicherheit eines Entwicklungsdramas bietet das angemessene Bild.

 

 

Literatur
(bei zwei zugeordneten Zahlen bezieht sich die zweite Kennzahl auf die benutzte Ausgabe):

Butor, Michel (92)Die Stadt als Text. Aus dem Franz. von H. Scheffel. Graz-Wien.

Cassirer, Ernst (42; 96) "Die 'Tragödie der Kultur'" In: Konersmann, R. (Hg) (96) Kulturphilosophie. Leipzig: Reclam, S. 107-139.

Heidegger, Martin (52) „Was heißt Denken?“ In: ders. (54;585) Vorträge und Aufsätze. Pfullingen: Neske, S. 123-137.

Husserl, E. (92) Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. In: ders. Gesammelte Schriften. Hg. von E. Ströker. Hamburg: Meiner (entspricht Husserliana VI).

Konersmann, R. (Hg) (96) Kulturphilosophie. Leipzig: Reclam.

Nietzsche, Friedrich (75) Also sprach Zarathustra. Stuttgart: Kröner (KTA 75)

Schütz, Alfred (80) Theorie der Lebensformen. Hg. und eingel. von I.Srubar. Ffm. (stw 350)

Simmel, Georg (11; 96) "Der Begriff und die Tragödie der Kultur" In: Konersmann, R. (Hg) (96) Kulturphilosophie. Leipzig: Reclam, S. 25-57.

Simmel, Georg (583) Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. In 2 Bänden. Aalen: Scientia 

Wittgenstein, Ludwig (53; 790) Philosophische Untersuchungen. In: Werkausgabe I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (stw 501)                                                                             PU 

Wittgenstein, L. Vermischte Bemerkungen (1948); In: Werkausgabe. VIII Ffm. (stw 508)

 



[1] Simmel, Georg (11; 96) "Der Begriff und die Tragödie der Kultur" In: Konersmann, R. (Hg) (96) Kulturphilosophie. Leipzig: Reclam, S. 25-57. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert mit (Simmel Tragödie, S.)

[2] Man könnte diese Inverse zu Simmel mit einer Anmerkung Michel Butors zur Stadt im allgemeinen illustrieren. In Die Stadt als Text (Butor (92): 13) sagt er: "weil sich Text gesammelt hat, lassen sich die Menschen dort nieder, um ihm gewissermaßen zu dienen". Butor legt so den Akzent auf die Verlebendigung des Prätexts der Archive und Bauten, statt auf die naheliegende Richtung, in die auch Simmel blickt, daß sich (toter) "Text an einem Ort angehäuft hat, weil sich viele Menschen dort befunden haben".

[3] Husserl, E. (92) Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg: Meiner: 127.

[4] Ich werde 'Lebensform' im Folgenden in dieser Bedeutung verwenden. Das bedeutet eine gewisse Distanzierung von der, durch die Bergsonsche Lebensphilosophie geprägten, Bestimmung des Begriffs 'Lebensform' bei Alfred Schütz, der unter 'Lebensform' die "Einstellung des Ichbewußtseins zur Welt" meint. Schütz, Alfred (80) Theorie der Lebensformen. Hg. und eingel. von I. Srubar. Ffm., S. 110.

[5] Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen (1948); In: ders. Werkausgabe. Ffm. Bd. VIII: 558.

[6] Simmel Tragödie, S.31.

[7] Mit "Kulturpessimismus ... in seiner schärfsten und radikalsten Fassung" kennzeichnet Ernst Cassirer in "Die 'Tragödie der Kultur'" (Cassirer (42; 96): 109) Simmels Position.

[8] Simmel, Tragödie: 25

[9] Ebd.; meine Hervorhebungen.

[10] Ebd.

[11] Simmel Tragödie: 29.

[12] Beide Aspekte tragen zu den Schwierigkeiten mit der Kultur bei. Die Tragik liegt aber in der Wertsteigerung.

[13] Es ist zu bewundern, wie Simmel in letzter Konsequenz, den Wert der höchsten Kunst von daher so bestimmt, daß deren Unzugänglichkeit für den Rezipienten den Kulturwert reduziert. Und er scheut sich nicht, dies in Konsequenz für den Wert der Ethik weiterzudenken: "enthalten manche ethische Imperative ein Ideal von so starrer Vollkommenheit, daß sich aus ihm sozusagen keine Energien, die wir in unsere Entwicklung aufnehmen könnten, aktualisieren lassen" (Tragödie 41f).

[14] Cf. Simmel Tragödie: 36, wo er herausarbeitet, daß der Sachwert, der nicht unsere Gesamtpersönlichkeit, sondern lediglich eine spezielle Fähigkeit verbessert kein Kulturwert ist, oder (S.43), wo er unterstreicht, daß wir die spezielle Entwicklung der ideellen Werte gar nicht mehr in der Hand haben, oder (S.47), wo er die Arbeitsteilung als verhängnisvoll für das Subjekt, aber positiv für das Objekt beschreibt.

[15] Simmel (S.49) bedenkt hier sogar die, für die spätere Kunsttheorie und Ästhetik, zentrale Problematik des objet trouvés.

[16] Cf. Friedrich Nietzsche Zur Genealogie der Moral I.

[17] Cf. die oben mit 2) und 3) angezeigten Problempunkte.

[18] Leopold Bloom hatte es in James Joyce's Ulysses noch relativ leicht.

[19] Cf. Nietzsche Also sprach Zarathustra I den Abschnitt "Von den Freuden- und Leidenschaften".

[20] Cf. Wittgenstein, L. Philosophische Untersuchungen §§ 66ff (im Folgenden abgekürzt PU)

[21] Cf. PU § 18

[22] Cf. Pu §§ 43 und 432. Auch § 83 mit dem Hinweis auf ein "make up the rules as we go along" kennzeichnet die Kulturleistung Sprache wie die Regeln und Objektivationen der Kultur.

[23] Ebd. PU § 146

[24] Wittgenstein, L. Philosophische Untersuchungen § 504.

[25] Cf. zu dieser Frage in ihrem Gesamtkomplex Rauscher, J. (2001) Sprache und Ethik. Würzburg.

[26] Cf. Simmel Tragödie:35.

[27] Heidegger, M. (52) "Was heißt Denken?" In: VA: 132f.

[28] Ebd. VA: 135.

[29] Wittgenstein PU § 217.

[30] Sokrates demonstriert dies im Dialog Gorgias.

[31] Cassirer (42;96) "Die Tragödie der Kultur": 114

[32] A.a.O.: 139.

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